Mann guckt in einen Kühlschrank Besser als Big Data Interview mit Martin Lindstrom

Besser als Big Data: Wie Small Data das Marketing im Mittelstand erfolgreicher macht.

Die Digitalisierung schreitet unaufhaltsam voran, und immer mehr Unternehmen sammeln gigantische Datenmengen über ihre Kunden. Doch lernt man durch Big Data den Verbraucher und seine Bedürfnisse wirklich kennen? „Nein“, sagt der  Markenexperte Martin Lindstrom in seinem neuen Buch „Small Data“. Er verbringt lieber 300 Tage im Jahr damit, Menschen in ihren Wohnungen zu besuchen, mit ihnen zu reden, sich ihre Kühlschränke und auch den Müll anzuschauen. Was er dabei beobachtet, erscheint auf den ersten Blick oft unscheinbar. Aber gerade die vermeintlich kleinen Dinge können für den Bestsellerautor die wichtigsten Auslöser für erfolgreiche Produktinnovationen sein. Und auch wenn die Auftraggeber von Lindstrom meist Weltkonzerne sind: Für Unternehmen aus dem Mittelstand ist Small Data eine gute Möglichkeit, erfolgreiche neue Ideen zu entwickeln. Wie das funktioniert, erzählt Lindstrom in diesem Interview.

Was bedeutet Small Data für Sie und warum haben Sie Ihr Buch so genannt?

In den vergangenen 5 Jahren war die Geschäftswelt besessen von Big Data – eine Besessenheit, die zu einer nahezu unkritischen Befürwortung von Verfahren zum Erhalt und Sammeln von Daten führte. Es wurde jedoch zunehmend deutlich, dass Big Data deutlich weniger Werte schafft, als zunächst angenommen. Und hier kommt Small Data ins Spiel. Während es bei Big Data darum geht, Zusammenhänge zu finden, kommt es bei Small Data darauf an, Ursachen ausfindig zu machen. Es ist so: Man braucht eine Hypothese – etwas, worauf man bei der Sammlung und Verarbeitung von Milliarden Datenpunkten zusteuern kann. Darum geht es bei Small Data. Small und Big Data sind wie Tanzpartner: während Small Data die Annahme gestaltet, hilft Big Data dabei, sie anhand von Zusammenhängen zu überprüfen.
Bei Small Data handelt es sich um scheinbar unbedeutende Beobachtungen aus dem Leben: wie wir in unserem Wohnzimmer ein Gemälde aufhängen, wie wir unsere Schuhe hinstellen oder wie wir unseren Kühlschrank füllen. Durch persönliche Befragungen oder sogar, indem man bei Verbrauchern einzieht, ermittelt man jene Elemente, die andeuten, wo wir im Ungleichgewicht sind – denn es ist dieses „Ungleichgewicht“, das Chancen für Marken oder neue Produkte bietet.

In vielerlei Hinsicht könnte man sagen, dass es bei Big Data um rationale Daten geht – Small Data dagegen sind menschliche Daten. Selbstverständlich können sie ohne einander nicht bestehen, dennoch herrscht in der modernen Geschäftswelt der etwas naive Glaube, dass nur Big Data benötigt wird.

Wie wichtig ist Small Data für Unternehmen, um neue Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln?

Es ist entscheidend. Rund 75% aller neuen bahnbrechenden Produktinnovationen entstammen derzeit der Arbeit mit Small Data – dagegen sind nahezu keine wesentlichen bahnbrechenden Ideen direkt auf Big Data zurückzuführen.

Sie betrachten Big Data, also das Datensammeln im großen Stil, sehr kritisch. Warum?

Jedes Instrument hat einen bestimmten Zweck und ist kaum jemals in jedem Zusammenhang nützlich. Auch Big Data ist ein Instrument, macht aber aufgrund von verschiedenen Faktoren die überwältigende Mehrheit an Daten aus. Dies schüchtert uns gewissermaßen ein und lässt uns glauben, dass „sie richtig sein müssen“. Die Überzeugung der Geschäftswelt, dass Zahlen nie lügen (und wenn man doch daneben lag, kann man sich deshalb die Hände in Unschuld waschen) ist beinahe die Standardantwort auf jede Frage geworden.

So sieht es aber in Wirklichkeit aus: 85% von allem, was wir täglich tun, ist irrational, nur 15% sind rational. Das besagt die von uns im Rahmen meines letzten Buches Buyology durchgeführte weltweit größte Neuromarketingstudie, bei der die Gehirnbilddaten von 2000 Verbrauchern untersucht wurden. Nur falls Sie es nicht glauben: Haben Sie nicht auch schon mal versucht, aus irgendeinem Grund einfach fester zu drücken, als die Batterien Ihrer Fernbedienung leer waren, so als wollten Sie den letzten Saft aus der Batterie „herausquetschen“? Irrational!

Echte Marken agieren ausschließlich im Bereich dieser 85%, was natürlich eine Herausforderung ist, denn hier sitzt das irrationale Verhalten und damit jenes Verhalten, das man nicht abfragen kann. Ich meine, warum „klopft man auf Holz“ oder drückt jemandem die Daumen? Studien haben gezeigt, dass es nicht funktioniert. Trotzdem bin ich mir sicher, dass man ungeachtet der wissenschaftlichen Fakten damit fortfährt. Dieses seltsame Verhalten ähnelt dem Grund, weshalb wir eine bestimmte Marke bevorzugen – und hier kommt Small Data ins Spiel.

Bei Ihrer Arbeit kommen Sie den Konsumenten sehr nahe, ziehen sogar für einige Tage in deren Wohnungen und inspizieren dabei u.a. den Inhalt von Kühlschränken, die Art der Einrichtung und sogar den Müll. Suchen Sie dabei konkret nach bestimmten Dingen oder lassen Sie sich überraschen?

Wir suchen stets nach „Ungleichgewicht“. Wir sind alle irgendwie aus dem Gleichgewicht: Man fühlt sich vielleicht übergewichtig oder allein, denkt, man hätte im Leben nicht das erreicht, was man wollte. All diese kleinen und großen Ungleichgewichte bilden zusammen eine faszinierende Lücke. Und genau diese Lücke bietet Chancen für neue Marken, Produkte oder Dienstleistungen. Diese Beobachtungen sind überall möglich, etwa anhand daran, wie man den Kühlschrank füllt (Cola neben Gemüse deutet oft auf einen Konflikt hin) oder an den Dimensionen und Farben von Bildern (die oft den Grad des eigenen Selbstwertgefühls andeuten) usw.

Wie bringen Sie die Leute dazu, Sie in ihr Leben zu lassen?

Das ist der einfache Teil, ich habe über 2000 Verbraucherhaushalte in 77 verschiedenen Ländern besucht und wurde nie abgelehnt. Menschen reden gern, vor allem über sich selbst. Sie lassen andere gern an ihrem Leben teilhaben und zeigen ihre Fotoalben oder ihre Musiksammlung. Die Leute haben vermutlich nur selten die Gelegenheit, jemandem ihr Leben zu erklären, der sich wirklich dafür interessiert.

Sie achten auch auf die kleinsten Hinweise und teilweise unspektakulär anmutenden Dinge. Wie sortieren Sie diese Erkenntnisse und woher wissen Sie, was eventuell wichtig sein könnte?

Wir arbeiten nach einem Verfahren, das mit dem sogenannten Subtext anfängt. Dabei ziehen wir bei Verbrauchern ein oder verbringen wertvolle Zeit mit ihnen in ihrer Umgebung. Das könnten übrigens z.B. auch die Wohnungen von Geschäftsleuten sein, dies hat sich als unglaublich wirksam erwiesen, wenn man mit B2B Marken arbeitet und die wahren Probleme innerhalb von Unternehmen aufdeckt.

Bei Small Data – der zweiten Phase – geht es darum, all jene Dinge ausfindig zu machen, die nicht ins Bild passen, dazu im Widerspruch stehen oder gar nicht erst vorhanden sind.

Und dann kommt die kleine Sammelphase, in der wir die Unmenge identifizierter kleiner Daten in einem gründlichen System abbilden, das Muster erkennen lässt. Diese Ausarbeitung und Abbildung fängt beinahe unmittelbar nach der ersten Subtext-Befragung an – denn dieser Vorgang ist iterativ. Kurz gesagt: Das heißt, wir ändern während der Forschungsarbeit unablässig das Ziel, indem wir untersuchen und mit dem Konsumenten sogar Brainstorming machen, um Einsichten zu sammeln. Bereits nach 4 Befragungen kann sich das, worüber wir reden und was wir untersuchen, um 100% ändern. Es handelt sich hier also um einen außergewöhnlich dynamischen Prozess.

Dann treten die ersten Vorstellungen in Erscheinung – wenn wir alle Fragestellungen auf den Kopf stellen und im Grunde alle Ungleichgewichte umkehren und in Lösungen und letztendlich in Konzepte verwandeln.

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Sie arbeiten für bekannte Konzerne weltweit, die über große Marketingbudgets und Werbeabteilungen verfügen. Und die es sich leisten können, Sie als Berater zu engagieren. Aber kann auch ein Unternehmer aus dem Mittelstand Small Data in Eigenregie nutzen? Und wo sollte er anfangen?

Die gute Nachricht ist: Im Gegensatz zu Big Data ist Small Data unglaublich preisgünstig und kann auf einfache oder natürlich auch kostspielige Art und Weise adaptiert werden.

Das Fazit ist ganz einfach: es geht letztendlich darum, dem Verbraucher nahezukommen, die Welt von außen nach innen zu betrachten, anstatt von innen nach außen. Indem man schlicht Zeit mit 10 früheren Kunden, 10 aktuellen Kunden und 10 potenziellen Kunden verbringt und versucht, ihr Leben, ihre Ungleichgewichte, ihre Wünsche und Hoffnungen zu verstehen, gewinnt man zweifelsohne mehr Einsicht, als irgendeine konventionelle Studie je bieten könnte. Warum? Weil, wenn es richtig gemacht wird, man emotionale Daten aufnimmt – und emotionale Daten bilden die Grundlage für den Aufbau von Marken.

Wohlbemerkt, das sollte nie zur Verkaufstechnik werden, wir verraten nie, woher wir kommen oder für welche Marke wir arbeiten, denn das würde die Befragten davon abhalten, die Wahrheit zu sagen. Danach kann man natürlich die Messlatte höher legen und jene Prozesse durchlaufen, die in meinem Buch beschrieben sind – aber die Prinzipien bleiben die gleichen: zuhören, beobachten und stets nach Ungleichgewichten suchen.

Beispiel für Small Data bei einem Kleinunternehmen

Erst kürzlich fragte mich mein Gemüsehändler, nachdem er mein Buch gelesen hatte, ob ich ihm helfen könne. Sein Geschäft lief schlecht und ich wollte, dass sein Laden bleibt. Also bot ich an, ihm dabei zu helfen, sich Small Data zu Nutze zu machen.

Nachdem wir bei 5 Kunden zuhause gewesen waren, stellten wir nach Untersuchung ihrer Kühlschränke fest, dass die Leute ihren Kühlschrank unbewusst auf Grundlage der vermeintlichen Frische füllten. Das Ungleichgewicht bestand schlicht darin, dass wir alle als gesund gelten möchten und daher unsere Kühlschränke so füllen, dass wir so rüberkommen. Aber es gibt ein Problem: Woher weiß man, ob die Karotte frisch ist oder nicht? Und – noch wichtiger ist – was bedeutet frisch überhaupt? Laut Supermarkt erkennt man das am Verfallsdatum. Aber ist das frisch? Ich meine, wann wurden diese Karotten geerntet? Niemand weiß es.

Small Minding half dabei, diese Einsichten zu verschärfen, und plötzlich prägte sich ein Bild aus: uns wurde plötzlich bewusst, dass es etwas gibt, das noch wichtiger ist, als das Verfallsdatum: der Erntezeitpunkt. Wann das Gemüse geerntet wurde ist also wichtiger, als die Frage, wann es verdirbt! Und das hat sich als Konzeptlösung herausgestellt.

Wenn jetzt mein Gemüsehändler allmorgendlich mit seinem Obst und Gemüse vom Bauernmarkt zurückkehrt und seine Regale damit befüllt notiert er, wann er das Gemüse auf dem Markt gekauft hatte. Die Gurke z.B. um 4.20 Uhr, die Karotten um 5.29 Uhr und die Zwiebel um 5.43 Uhr. Wir brachten die handgeschriebenen Schilder über jedem Gemüseregal im Laden an, schufen den Werbespruch: „Frischer geht es nicht“ und öffneten die Tore. Heute unterhält mein einstmals kleiner Gemüsehändler 11 Geschäfte in Sydney und Melbourne.

Das Interview führte Claudia Mattheis

Buchcover Small Data von Martin Lindstrom

Martin Lindstrom

Small Data
Was Kunden wirklich wollen – wie man aus Hinweisen geniale Schlüsse zieht

Plassen Verlag ein Imprint der Börsenmedien AG
320 Seiten

24,99 €

Bei amazon bestellen 

Small Data ist das neueste Buch von Martin Lindstrom. Der Experte für Brandbuilding und Autor mehrerer Bestseller wurde vom Time Magazine unter die 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt. Mithilfe von Small Data sucht Lindstrom nach Hinweisen, welche die Wettbewerber oft übersehen. Nicht nur, weil die Hinweise so subtil sind, sondern
weil die Wettbewerber damit beschäftigt sind, Datenberge anzuhäufen und verzweifelt nach Korrelation suchen, dabei aber die Kausalität übersehen.

In dem Buch erzählt er, wie kaputte Turnschuhe im Zimmer eines elfjährigen deutschen Jungen den Turnaround bei LEGO einleiteten, wie ein Kühlschrankmagnet aus einer Küche in Sibirien eine Supermarktrevolution in den USA auslöste. Und wie ein Teddy in einem Mädchenschlafzimmer dabei half, 1.000 Läden einer Modekette in 20 Ländern zu revolutionieren.

Das Interview ist im Unternehmermagazin DER Mittelstand. in der Ausgabe 01/2017 erschienen.

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