Prof. Dr. Clemens Schwender, der Herausgeber des GAM-Verlags führte mit uns ein Interview zum Thema Seniorenmarketing und Medien & Alter:
„Wir sind überzeugt, dass man gutes Seniorenmarketing nur machen kann, wenn man das Alter selbst fühlt und versteht.“ (Claudia Mattheis)
Interview mit Claudia und Siegbert Mattheis, dem Geschäftsführer:innen-Duo von der Mattheis Werbeagentur, die ihren Sitz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg hat. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist das Seniorenmarketing.
Die beiden Gesellschafter:innen der Mattheis Werbeagentur sind Jahrgang 1966 und 1959 und somit selbst im Alter ihrer Zielgruppen angekommen. Sie wissen also, wovon sie reden. Doch wie definieren sie den Begriff Seniorenmarketing?
CLAUDIA MATTHEIS: Seniorenmarketing spricht die Altersgruppe der Personen an, die 60 Jahre und älter sind. Diese Altersgrenze kann jedoch je nach Kontext und Zielsetzung der Marketingkampagne variieren. Manche Unternehmen und Organisationen richten ihre Seniorenmarketing-Strategien auf Personen im Alter von 50 oder 55 Jahren aus. Es ist immer abhängig davon, wie unsere Kunden „Senior“ definieren und welche spezifischen Bedürfnisse sie ansprechen möchten.
GAM: Sehen Sie sich als Repräsentanten der Zielgruppe? Oder anders ausgedrückt, wie verstehen Sie ältere Menschen?
SIEGBERT MATTHEIS: Ich verstehe mich natürlich als Zielgruppe. Wir fühlen uns aber nicht als Senioren und wollen auch Seniorenteller. Ich will auch nicht als Rentner oder als Senior angesprochen werden. Doch dies geschieht viel zu oft und zu pauschal. Und weil uns dies so ärgert, haben wir unser Seniorenmarketing ausgebaut.
Wichtig ist zu verstehen, dass wir mit 60 durchschnittlich noch 20 oder 30 Jahre aktives Leben vor uns haben! Und in den meisten Fällen verfügen wir auch über mehr Geld als früher. Wir wollen jedoch keine extra für Senior:innen gebauten Geräte mit schlechtem Design. Gleichzeitig haben wir aber auch keine Lust, Zeit zu vergeuden und uns mit ellenlangen, komplizierten Bedienungsanleitungen herumzuschlagen!
CLAUDIA MATTHEIS: Wir sind überzeugt, dass man gutes Seniorenmarketing nur machen kann, wenn man das Alter selbst fühlt und versteht. Das betrifft die Sensibilität, die man im Alter gegenüber bestimmten Themen bekommt. Das ist anders als früher. Die Altersbilder haben sich verändert.
SIEGBERT MATTHEIS: Trotzdem haben wir auch unsere eigenen Altersbilder von früher im Kopf. Das heißt, als 20-Jähriger waren 30-Jährige alt. Als 40-Jähriger waren 60-Jährige ziemlich alt. Jetzt bin ich 64. 70-80-Jährige sind nun alt. Man muss sich fragen: „Was heißt es eigentlich, alt zu sein?“. Und tragen wir ab einem bestimmten Alter alle Beige?
GAM: Eine Kollegin des GAM sagte, Bunt ist das neue Beige.
CLAUDIA MATTHEIS: Menschen werden in ihrer Diversität immer sichtbarer. Und zwar über alle Generationen. Deswegen passt dieses „Bunt ist das neue Beige“ sehr gut. Alte sind so unterschiedlich wie die Jungen. Aber es gibt viel mehr Ausprägungen als früher. Und es sind mehr Lebensformen möglich. Das fängt beim Wohnen an, noch nie gab es so viele Wohnformen für ältere Menschen wie heute. Als Alternative zum alleine Leben im eigenen Haus oder in der Wohnung kann man auch in ein Mehrgenerationen-Haus ziehen, in eine Wohngemeinschaft mit Gleichgesinnten, in eine Service-Wohnanlage in der Stadt oder in ein Wohnprojekt auf dem Land mit vielen Tieren und gemeinschaftlichen Gartenflächen. Oder man verbringt den Ruhestand im Ausland.
Genauso vielfältig sind die Antworten auf die Frage, ob man mit über 60 noch weiterarbeiten will. Ich kann mich nicht erinnern, dass dies in der Vergangenheit so intensiv diskutiert wurde wie aktuell. Es liegt nicht nur am Fachkräftemangel, sondern daran, wie sich heute Menschen jenseits des 60. Geburtstages fühlen. Viele denken gar nicht an die Rente, sie wollen aber anders arbeiten. Vielleicht mit weniger Arbeitstagen im Monat und dafür mit mehr Flexibilität. Ich kenne viele Babyboomer, die beruflich etwas Neues anfangen, die Branche wechseln, sich selbstständig machen oder sich ehrenamtlich engagieren. Der Wunsch, weiterhin gebraucht zu werden und das Wissen weiterzugeben, ist stärker denn je.
Mehr darüber auch auf unserem Portal Livving.de: Wie wollen wir in Zukunft leben?
Wir „Alten“ sind also sehr divers, wir fühlen und denken anders als die Generation unserer Eltern oder Großeltern. Deswegen wollen wir auch anders angesprochen werden. Das haben jüngere Werber:innen nur noch nicht bemerkt.
GAM: Das Alter gehört zu den Stereotypen, die als Fremdbild beginnen und dann Selbstbild werden.
CLAUDIA MATTHEIS: Ja, das ist auch ein großes Thema bei uns. Was ich in den Generationen der 50-, 60-, 70-Jährigen an Lebensfreude und Erfahrung spüre, ist in gewisser Weise alterslos. Zumal sich viele zehn Jahre jünger fühlen, als es in ihrem Pass steht. Deswegen reagieren wir so sensibel, wenn wir festgeschrieben werden auf Senior:innen und Rentner:innen.
Keine Altersgruppe wird übrigens mit so vielen Namen bedacht wie die älteste. Sehr beliebt sind Best Ager oder Babyboomer, aber auch Bezeichnungen mit Edelmetall-Assoziationen wie Silver Society, Silver Economy, Silver Generation, Golden Ager und Platin Surfer.
Offenbar gibt es viele Unsicherheiten, wie ältere Menschen bezeichnet werden sollen, ohne dass sie sich diskriminiert fühlen. Und genau dies ist das Problem in der Kommunikation. Denn kaum jemand über 50 fühlt sich von den vorgenannten Bezeichnungen angesprochen.
Das macht die Ansprache im Seniorenmarketing auch so kompliziert. In Gesprächen mit Unternehmer:innen oder mit Verbänden merken wir zudem, dass diese die Zielgruppe 60+ schwer greifen können. Vor allem jüngere Entscheider sind oft unsicher, was die politisch korrekte Anrede ist.
Wir machen seit 30 Jahren Werbung und sind trainiert darauf, uns in unterschiedlichste Zielgruppen reinzudenken. Das ist Teil unserer DNA oder das, was wir gelernt haben. Wir schauen vorurteilsfrei und ohne Klischees auf das, was die Leute wollen, wie sie ticken, wo sie herkommen, was ihre Bedürfnisse sind. Und genauso gehen wir damit um, wenn wir Menschen im Alter von 50, 60, 70, 80 plus vor uns haben.
SIEGBERT MATTHEIS: Das gilt auch für Fragen der geschlechtsspezifischen Wahrnehmung: Mann und Frau.
GAM: Was sind geschlechtsspezifische Unterschiede im Marketing?
CLAUDIA MATTHEIS: Es gibt heute viel mehr Medien von und für Frauen 50 plus. Diese beweisen, dass wir nicht plötzlich unsichtbar werden wollen. Wir stehen mitten im Leben, sind beruflich engagiert, immer noch attraktiv sind und spielen eine Rolle in der Gesellschaft. Selbst das frühere Tabu „Wechseljahre“ wird stärker thematisiert als je zuvor.
Auffällig ist aber, dass es kaum mediale Angebote für Männer über 50 gibt. Die müssen sich weiterhin mit Men’s Health und dem Playboy begnügen.
Schön ist auch, dass es in den Medien immer mehr Frauenmodels im Alter von 50 oder 60 plus gibt. Das war früher ein absolutes No-Go.
Das Interessante ist, dass die Senior-Models die gleichen Looks zeigen, die auch jüngere Frauen tragen, ohne peinlich zu sein. Wenn sie sich Sneaker-Werbung anschauen, für Kosmetik oder Mode oder Parfümwerbung. Diese Produkte sind heute altersunabhängig. Die werden von älteren Models souverän präsentiert.
SIEGBERT MATTHEIS: Der Männermode-Anbieter „Mey & Edlich“ hat vor einigen Jahren erstmals auch männliche Senior-Models gezeigt, einen Mann mit weißem Bart und schwarzen Klamotten, der tätowiert war. Das hat mich angesprochen. Das war etwas anderes, als man bisher kannte.
GAM: Er ist ein Gegenstereotyp, weil es gegen die Erwartungen visualisiert.
SIEGBERT MATTHEIS: Vorreiter war Friedrich Liechtenstein in der Edeka-Werbung: „Das ist geil. Supergeil.“ Die war erfolgreich, der Clip lief viral.
GAM: Sie haben auf Ihrer Homepage an vielen Stellen den Gender-Doppelpunkt. Warum?
SIEGBERT MATTHEIS: Ich finde das absolut wichtig und richtig. Vor drei Jahren habe ich mich mit der Freundin meines Neffen unterhalten, die 23 war. Und sie hat während des Familiengesprächs gegendert. Für sie war das selbstverständlich, aber sie musste mit ihrem Vater und dem Bruder kämpfen, die das idiotisch fanden. Wir haben uns für den Doppelpunkt entschieden, da der auch von den Screenreadern für Sehbehinderte als Pause lesbar ist. Es war für uns eine Umstellung, an die wir uns gewöhnen mussten. Es ist wie die Maske bei der Pandemie. Es nervt, aber es ist wichtig und richtig.
Mehr zum Gendern in der Werbung
CLAUDIA MATTHEIS: Wir haben auch immer mehr Kund:innen, die Wert auf das Gendern legen. Und wir achten auf eine klischeefreie Kommunikation. Da gehört Ageism dazu. Denn grade darin gibt es einen großen Widerspruch. Zum einen wird Diversität eingefordert, aber jüngere Menschen diskriminieren Ältere. Und Ältere, die das Gendern ablehnen, haben Vorbehalte gegenüber den Jüngeren.
GAM: Ja, wahrscheinlich braucht man Geduld, bis sich das in der Gesellschaft durchsetzt. In der Debatte um Altern gibt die Begriffe „Altersgewinne“ und „Altersdefizite“. Defizite sind offensichtlich nichts, was man im Marketing verstecken müsste.
CLAUDIA MATTHEIS: Aus unserer Sicht gibt es keine Defizite. Hörgeräte und Brillen sind kein Defizit. Übergewicht ist kein Defizit. Selbst Gebrechlichkeit muss keines sein.
Zumal auch jüngere Menschen körperliche Einschränkungen haben können. Ich kenne Dreißigjährige, die sich mit Arthrose schwertun – etwa ehemalige Fußballspieler:innen. Daher sollte sich Werbung für ältere Zielgruppen auch nicht darauf konzentrieren, was nicht mehr geht, sondern welche Möglichkeiten und Erleichterungen das Angebot bietet.
Man muss sich fragen, was man erreichen will und ob ein Produkt dabei hilft. Geht es zum Beispiel um mehr Mobilität? Oder um soziale Teilhabe durch besseres Hören und Sehen?
Wir wollen wegkommen von den Altersgruppeneinteilungen und -zuschreibungen, sondern deren Bedürfnisse in den Fokus nehmen, an denen dann die Produktgestaltung und -kommunikation auszurichten ist. Und das versuchen wir in unserer Arbeit.
Und aktuell: Marketing wird oft reduziert auf Produktdesign und Kommunikation. Wir sehen Personalmarketing mittlerweile auch als wichtigen Teil im Marketing-Mix für die Zielgruppe 50 plus. Arbeitnehmer:innen über 50 bringen wertvolle Berufserfahrung mit und sind unverzichtbar, besonders angesichts des Fachkräftemangels. Diese Altersgruppe ist oft unabhängig, lebenserfahren und gesund, was sie zu wertvollen Mitarbeitern macht, insbesondere in Führungspositionen. Was aber oft fehlt sind passende Angebote, wie zum Beispiel andere Arbeitszeitmodelle. Es ist wichtig, dass Unternehmen erkennen, warum das Einbeziehen und Wertschätzen von älteren Mitarbeitern zur Vielfalt und Attraktivität eines Unternehmens beiträgt.
GAM: Danke für dieses Plädoyer und für das Gespräch.
Die Zeitschriften-Ausgabe zu Seniorenmarketing beim GAM-Verlag